Der weite Weg zur Industrie 4.0

10 Dez

Wie kommen Produktionsunternehmen zu einer erfolgversprechenden Digitalisierungsstrategie?

Es hat sich herumgesprochen: Industrie 4.0 ist mehr als intelligente Vernetzung und Digitalisierung der Produktion durch Analytics, KI oder das IoT. Die Transformation verändert die Unternehmen, die Arbeitswelt und die Gesellschaft.

Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit sind bisher die wenigsten Produktionsunternehmen mit definierten Zielen und klarer Roadmap unterwegs. Ohne Hilfe von außen, meint Carsten Eckardt, werden viele es nicht schaffen. Als Head of Digital Manufacturing und Digital Business Solutions bei der TÜV Rheinland Consulting GmbH hat er viele Unternehmen beraten. Im Gespräch mit QM-aktuell berichtet er über seine Erfahrungen.

Michael Bechtl (qm-aktuell): Herr Eckardt, Studien zeigen, dass es bei der Digitalisierung in den Chefetagen an Strategie fehlt. In vielen Unternehmen gibt es nur Ad-hoc-Ansätze und punktuelle Projekte. Wie ist das möglich?

Carsten Eckardt: Industrie 4.0 bedeutet, eine Wertschöpfungskette ganzheitlich und durchgängig digital abzubilden – nicht beschränkt auf ein Unternehmen, sondern auf die Fertigung innerhalb eines großen digitalen Ökosystems. Im Zentrum stehen neue Technologien, die die Prozesse verbessern, die Produktivität steigern und Innovationen vorantrieben. Da sind beispielsweise Kunden und Lieferanten mit einzubeziehen, die gesamte Prozesskette von der Bestellung bis zur Abrechnung. Aber technische Innovation ist nur ein Aspekt. In allen Unternehmensbereichen stellen sich neue Fragen, auch Geschäftsmodelle müssen neu gedacht werden. Industrie-4.0-Initiativen brauchen eine Planung, in welchen Schritten die Transformation funktionieren kann. Leider begreifen Unternehmen Technologie noch nicht als Werkzeug des Fortschritts, sondern nur als Instrument, um die drängendsten Probleme zu lösen und das bestehende Geschäft gegen Disruption abzusichern.

Michael Bechtl (qm-aktuell): Die Chefetagen wollen da ansetzen, wo sie sich von digitalen Technologien die Lösung akuter Probleme versprechen – Kostensenkung zum Beispiel?

Carsten Eckardt: Man setzt an, wo der Handlungsdruck am größten ist. Läuft etwas nicht gut – wird geschaut, ob das mit neuer Technologie nicht besser geht. Man beginnt ein Projekt und in der nächsten Problemzone wieder eines – so entstehen Insellösungen, die dann nur noch zusammen funktionieren müssten. Meist stellt sich aber heraus, dass sie sich nicht integrieren lassen. Die Herausforderung ist, alle Geschäftsprozesse nahtlos ineinandergreifen zu lassen und so einen höheren Mehrwert zu schaffen. Wenn ein Unternehmen beispielsweise eine fragmentierte IT-Infrastruktur hat, die keinen durchgängigen Daten- und Informationsfluss zulässt, muss eine komplette neue IT-Zielarchitektur entworfen werden, die dem Geschäft in der Zukunft gerecht wird. Die lässt sich nicht am Stück realisieren und per Knopfdruck in Betrieb nehmen. Aber alle Projekte, die fortan umgesetzt werden, müssen darauf einzahlen. Ähnlich planvoll muss ich Geschäftsprozesse umgestalten oder erweitern, um zum Beispiel die Customer Experience für die Produktentwicklung fruchtbar zu machen und vieles mehr. Digitalisiert man schlechte Prozesse, erhält man schlechte digitale Prozesse. Zum Aufbau einer transparenten Lieferkette muss ich Lieferanten und Partner einbinden, ähnlich im After-Sales-Bereich. Diese Durchgängigkeit – das ist Industrie 4.0. Ohne Digitalisierungsstrategie geht da nichts.

Michael Bechtl (qm-aktuell):  Diese Erkenntnis ist inzwischen verbreitet. Die Hilflosigkeit beginnt bei der Frage: Wie komme ich bei diesem unglaublich komplexen Thema zu einer Strategie?

Carsten Eckardt: Meist beginnt der Weg zu Industrie 4.0 beim Status quo. Wer genau weiß, wo es Brüche in den Prozessen gibt, wo die Datenerfassung unzureichend oder der Informationenfluss störanfällig ist, weil Dinge noch per Telefon weitergegeben werden, soll diese Schwachstellen zugrunde legen. Darf aber nicht dabei stehen bleiben, sondern muss sich fragen: Welche Anforderungen bzw. Herausforderungen gelten in fünf oder zehn Jahren? Bevor wir über Strategie sprechen, muss ich Ziele haben, wie das Geschäft künftig laufen wird. Wie kann ich im Wettbewerb langfristig vorn sein? Zukünftig können dank innovativer Technik und digitaler Prozesse kundenindividuelle Produkte zu den Kosten einer Massenproduktion hergestellt werden. Aber welche Technik brauche ich dafür, welche Prozesse, welche Mitarbeiterqualifikationen, welche Partner? Welche Services kann ich rund um mein Produkt anbieten? Wie agiere ich in den neuen europäischen Datenräumen, wie nutze ich Cloud-Ökosysteme, die gerade entstehen? So ergibt sich aus einer Vision eine Strategie, aus der Strategie entstehen Programme, aus denen sich einzelne Projekte ergeben.

Michael Bechtl (qm-aktuell): Und nichts geht ohne Menschen, die das Wissen, die Fähigkeit und die Begeisterung haben, die Innovationen umzusetzen?

Carsten Eckardt: Ja, man muss die Menschen gewinnen. Es gibt nichts Schlimmeres als einen Digitalisierungsprozess, den die Mitarbeiter am Ende nicht annehmen, weil sie nicht einbezogen wurden. Weil sie sich sogar bedroht fühlen. Bei Industrie 4.0 geht es nicht darum, Mitarbeiter freizusetzen. Die dunklen Fertigungshallen, wo kein Mensch mehr ist und alles automatisch funktioniert, sind Utopie. Industrie 4.0 braucht weniger Mitarbeiter in der Fertigung, aber auch andere Fähigkeiten. Das bedeutet: Die Anforderungen an die Mitarbeiter ändern sich. Sie zu motivieren und weiterzubilden muss ebenso sorgfältig konzeptioniert und geplant werden wie die Erneuerung der Technik oder der Prozesse.

Michael Bechtl (qm-aktuell):  Kommt der mittelständische Betrieb ohne Beratung mit dieser strategischen Herausforderung klar?

Carsten Eckardt: Aus der Erfahrung heraus: eher nein! Viele versuchen es, weil sie die Tragweite der Veränderung nicht sehen. So setzen sie auf Bordmittel, stellen einen Mitarbeiter ein, der dann „Digitalisierung macht“ und Studenten bekommt, die zuarbeiten. Das kann begrenzte Erfolge bringen, aber auch Irrwege und Fehlinvestitionen verursachen. Der bessere Weg ist, sich Expertise ins Haus zu holen. Dafür gibt es sogar Förderungen. Deutschland und die EU wollen die Industrie technologisch voranzubringen. Man will Fertigungen, die in Niedriglohnländer abgewandert sind, mit neuen Konzeptionen zurückzugewinnen. Damit KMUs Beratung einkaufen können, gibt es Zuschüsse. Wenn ich Unternehmen berate, schauen wir immer auch nach solchen Förderprogrammen.

Michael Bechtl (qm-aktuell): Wie gehen Sie bei der Beratung vor? Was sind die Schritte?

Carsten Eckardt: Am Anfang steht das Kundengespräch, um das Unternehmen und seine Erwartungshaltungen kennenzulernen. Wie weit hat man sich schon mit der Thematik beschäftigt? Ich treffe Kunden, die 100prozentig wissen, was sie wollen, so dass man fast schon mit der Umsetzung anfangen kann. Andere sagen: „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Dann geht es zuerst um Zielentwicklung und Identifizierung der Handlungsfelder, auf denen eine vertiefte Analyse nötig ist: Was sind die Herausforderungen, wenn das Unternehmen sein Geschäft erweitern, umstellen oder digital abwickeln will? Welche neuen Technologien gibt es, über die wir als TÜV Rheinland anbieterneutral informieren? Gemeinsam mit dem Kunden entwickeln wir eine Strategie und Umsetzungs-Roadmap. Dann helfen wir bei der Implementierung bis hin zum erfolgreichen Betrieb.

Michael Bechtl (qm-aktuell): Das ist nicht mit fünf Beratungsterminen abgetan.

Carsten Eckardt: Wir wollen langfristig für den Kunden da sein. Als Berater kann ich in jeder Phase auf alle benötigten Kompetenzen im TÜV Rheinland zurückgreifen. Wir haben hochqualifizierte Industrie- und IT-Experten, Kollegen mit großen Erfahrungen im Designen und Optimieren von Prozessen, Fachleute für Personalentwicklung.