Wie kann ich als zuständiger Projektleiter das von unserer „Organisation benötigte Wissen bestimmen“, wie die ISO 9001:2015 es vorschreibt?
Prof. Dr. H. J. Thomann: Auf diese komplexe Frage gibt es keine einfache, allgemeingültige Antwort. Hier der Versuch, über wesentliche Wissensquellen und ggf. auch Risikoursachen einer Antwort näher zu kommen.
Eine Wissensquelle stellen die Informationen über die Produkte oder Dienstleistungen aus dem Feld dar. Die Erfahrungen von Nutzern, die Ergebnisse von Testlaboren bzw. von mystery shopping (auch zum Bewerten von Dienstleistungen) sind wertvolle Quellen, ob in schriftlicher Form oder online aus dem Internet, die u. U. aus Informationen Wissen generieren. Die Prüfung der Quelle und der dahinterstehenden Kompetenz und Seriosität ist eine weitere wichtige Voraussetzung für die Bewertung. Auch die Forschungsinstitute an Hochschulen oder von Industrieverbänden können, sofern in dem Arbeitsbereich der betreffenden Organisation tätig, interessantes Wissen bieten. Es bleibt aber die bedeutende Aufgabe, z. B. für den o. g. Projektleiter dieses ungeheure Angebot an Wissen zu kategorisieren und dann in Bezug auf das „benötigte Wissen“ zu bewerten.
Eine weitere bedeutende Wissensquelle ist das in der Organisation vorhandene Wissen.
In verschiedenen Datenbanken sind – oft noch unstrukturiert – Informationen vorhanden, die in geeigneter Form analysiert und strukturiert in Wissen überführt werden können. Am Beispiel der Wareneingangskontrolle sei das deutlich gemacht: Die gemessenen Werte mit Soll-/Ist-Vergleich und ggf. Abweichungsursachen oder weitergehenden Maßnahmen werden fortlaufend dokumentiert.
Aus der Summe der Einzelbeurteilungen der Lieferanten entsteht ein Ranking, wonach bevorzugte Lieferanten (hohe, gleichbleibende Qualität), gute Lieferanten (Schwankungen, aber besser als die Annahmekriterien) und Lieferanten mit Potenzial (teilweise unterhalb der Annahmekriterien, aber mit guter Q-Struktur) definiert werden.
Aus den Abweichungsursachen und weitergehenden Maßnahmen lässt sich weiteres Wissen aggregieren, z. B. durch Ursachencluster nach der 5M-Methode, um Erkenntnisse zu Werkstoff- oder Verarbeitungsproblemen auch verfügbar zu machen und Wiederholungen zu vermeiden.
Darüber hinaus das Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter. Eine oft genutzte Möglichkeit ist, die Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse der Mitarbeiter in einer Personalmatrix für das Qualitätsmanagementsystem darzustellen. So können beispielsweise die berufliche Aus- und Weiterbildung und die dabei erworbenen Fähigkeiten in drei Leveln abgebildet werden:
- Level 1 = abgesicherte Kenntnisse in der Praxis angewandt,
- Level 2 = Fortschreibung der Kenntnisse in Theorie und Praxis
- Level 3 = Experte (kann andere anleiten/ Wissen weitergeben)
Bezogen auf Problemanalyse-Werkzeuge und deren Verknüpfung kann der Mitarbeiter A auf Level 1 sein, wogegen er bei speziellen Anwendungen wie FMEA oder 8D-Report auf Experten-Level sein kann. Die Vorgehensweise lässt sich problemlos auf Werkstoffe oder Verarbeitungsmethoden oder Messtechnik anwenden und so entsteht ein Gesamtbild über das vorhandene, teils nur situativ abrufbare Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter. Neben die Dokumentation des vorhandenen Wissens tritt die Definition des strategisch benötigten Wissens in der jeweiligen Organisation mit ihren speziellen Randbedingungen (Kontext).
Diese Definition kann also nicht alleinige Aufgabe eines Projektleiters sein, sondern die Aufgabe des Führungsteams insgesamt. Der Projektleiter kann aber den Prozess gestalten und Informationen zur Entscheidungsfindung liefern.