Gibt es eine Richtlinie über die Aufbewahrungszeiten von „dokumentierten Informationen“ gemäß ISO 9001:2015?
Prof. Dr. H. J. Thomann: Diese Frage ist so alt wie die ISO 9001 selbst und auch immer noch berechtigt. Meines Wissens gibt es keine allgemeingültige Richtlinie über die Aufbewahrungszeiten von Vorgabe- und Nachweisdokumenten, wie es vor 2015 hieß.
Die ISO 9001:2015 verlangt zwar die Aufbewahrung von dokumentierten Informationen.
Kapitel 4.4.2 „Die Organisation muss in erforderlichem Umfang: b) dokumentierte Informationen aufbewahren, so dass darauf vertraut werden kann …“, aber über die Aufbewahrungszeiten wird auch an anderer Stelle (z. B. 7.1.5.1 ) nichts ausgesagt.
Dies ist auch logisch nachvollziehbar, wenn man sich die unterschiedlichen Gesetze, Technischen Regelwerke, Vertragsvereinbarungen und sonstigen Randbedingungen für verschiedene Branchen, Produkte und Dienstleistungen sowohl national als auch international vor Augen hält.
Wenn beispielsweise ein neuer Dämmstoff für die Außenwände von Gebäuden entwikkelt, geprüft und zugelassen wird, soll dann diese Entwicklungs- und Prüfdokumentation für zwei Jahre (VOB- Gewährleistung) oder fünf Jahre (BGB- Gewährleistung) oder für die gesamte Produktlebenszeit plus fünf Jahre aufbewahrt werden? Es kann aber auch sein, dass in diesem Fall die Zulassungsinstanz (z. B. die Bundesanstalt für Materialprüfung) konkrete Angaben zur Aufbewahrungsfrist gemacht hat.
Auch im Bereich der Flugzeugindustrie oder Medizintechnik scheint es plausibel zu sein, im Hersteller- und im Nutzerinteresse die Aufbewahrungszeiten von Entwicklungsergebnissen und Prüfdokumenten aus der Serie an der Produktlebenszeit fest zu machen, sofern es nicht bereits durch eine Regulierungsbehörde festgelegt wurde. Aber was ist mit Dokumenten aus dem administrativen und kaufmännischen Bereich? Aus QM-Gesichtspunkten könnten Angebote, Kalkulationen, Preislisten, Rechnungen vielleicht nach zwei oder drei Jahren gelöscht/vernichtet werden. Allerdings können Kunden oder Richtlinien der Steuerbehörden deutlich längere Aufbewahrungsfristen verlangen.
Für Dokumente in der Obhut, teilweise in der Verantwortung des QM-Bereiches (z. B. QM-Handbuch, QM-Prozesse, Prüfanweisungen, Managementreviews, QM-Audits, Kundenbeanstandungen usw.) sollte der QM-Bereich klare Aufbewahrungsfristen vorgeben. Auch dabei ist die Produktlebenszeit zu bedenken. Es sollte möglich sein, auch fünf Jahre nach Auslaufen eines Produktes, das 20 Jahre vorher entwickelt wurde, noch die qualitätssichernden Dokumente und die QM-Basis aus der Zeit vor 25 Jahren einzusehen. Dabei ist immer vorausgesetzt, das in solchen Fällen keine gesetzlichen oder regulatorischen Gründe dagegen sprechen.
Nach meiner Einschätzung wird bezüglich der Festlegung von Aufbewahrungsfristen zu sehr nach Forderungen Dritter geschaut, anstatt die Eigeninteressen des Herstellers zu analysieren, bei Qualitätsmängeln im Schadensfall (Ersatz, Produktrückruf, Feldausfälle) auch eine gute Herstellpraxis nachweisen zu können.