Chancen und Risiken virtueller Arbeitsverlagerung

5 Aug

Die positiven Erfahrungen mit Homeoffice in der Corona-Krise könnten unerwartete Folgen haben: Deutsche Unternehmen könnten 6 Prozent ihrer Arbeitskosten einsparen, wenn sie jede vierte telearbeitsfähige Stelle in Schwellenländer auslagerten. Das besagt eine Analyse des Kreditversicherers Coface. Südostasien, aber auch Schwellenländer wie Brasilien und Polen bieten sich an. Auf der anderen Seite könnte virtuelles Offshoring wirtschaftliche Ängste auslösen und zur Quelle politischer Risiken werden.

Bis zu 40 Prozent der Arbeitnehmer in der EU haben während des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr regelmäßig im Homeoffice gearbeitet. „Viele Unternehmen wurden von der Produktivität ihrer Belegschaft positiv überrascht und öffneten sich zunehmend der Idee einer teilweise globalisierten, virtuellen Belegschaft“, sagt Coface-Volkswirt Marcos Carias. Wenn sie nur ein Viertel der telearbeitsfähigen Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten, wären die Einsparpotenziale in Frankreich (7 Prozent) und im Vereinigten Königreich (9 Prozent) noch höher als in Deutschland.

Die Zahl der remotefähigen Arbeitsplätze in Volkswirtschaften mit hohem Einkommen beträgt etwa 160 Millionen, die der potenziellen Telearbeiter in Volkswirtschaften mit niedrigem und mittlerem Einkommen liegt bei etwa 330 Millionen. Allerdings können nicht alle Arbeitsplätze virtuell verlagert werden. Viele Aufgaben erfordern teilweise Präsenz vor Ort, persönlichen Kontakt mit Kunden oder ein gutes Verständnis der lokalen Kultur.

Um unter den Schwellenländern diejenigen mit den besten Voraussetzungen für virtuelles Offshoring zu identifizieren, hat Coface einen Indikator entwickelt. Die vier Schlüsselkriterien: die Zahl geeigneter Arbeitskräfte für Remote-Arbeit, die Wettbewerbsfähigkeit bei den Arbeitskosten, die zur Verfügung stehende digitale Infrastruktur und das Coface-Geschäftsklima, das unter anderem die Rechtssicherheit im jeweiligen Land ausdrückt. Neben Südostasien haben Indien und Indonesien, aber auch Brasilien viele potenzielle Telearbeiter und niedrige Arbeitskosten. „Auch China und Russland sind theoretisch ideale Ziele für eine Verlagerung“, so der Coface-Sprecher. Wachsende geopolitische Spannungen und Cybersicherheitsprobleme mit dem Westen stellen jedoch ein Hindernis dar.

Auf die Probleme des virtuellen Offshoring weist die Analyse ebenfalls hin. Verlagerung von Arbeit in dieser Größenordnung könnte destabilisierende gesellschaftliche Auswirkungen in den Industrieländern haben. Der Zusammenhang zwischen Deindustrialisierung und dem Aufstieg von Anti-Establishment-Politikern sei in den westlichen Demokratien im letzten Jahrzehnt beobachtet worden. Physisches Offshoring hat schon zu einer Einkommensstagnation bei weniger qualifizierten Arbeitnehmern geführt und sie für Anti-Globalisierungsrhetorik empfänglich gemacht. Bei der virtuellen Verlagerung von Arbeitsplätzen könnte sich ein ähnliches Muster bei hochqualifizierten Fachkräften durchsetzen.

Hinzu kommt, dass die Verlagerung einen zusätzlichen Abwärtsdruck auf hohe Einkommen in den entwickelten Volkswirtschaften ausüben würde, insbesondere in Einstiegspositionen. Bei gut ausgebildeten jungen Fachkräften, die die Globalisierung meist begrüßt und von ihr profitiert haben, könnten schlechte Jobaussichten die Waage in die andere Richtung kippen lassen. In der Folge würden die Risiken für eine politische Polarisierung und sozialen Unruhe steigen.

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