Schneller auf globale Krisen reagieren, mit Lieferengpässen zurechtkommen und auf individuelle Kundenwünsche reagieren – Thomas Bauernhansl, Institutsleiter des Fraunhofer IPA, ist sich sicher: „Ähnlich wie vor über hundert Jahren das Fließband wird die Matrixproduktion eine neue industrielle Ära einleiten und bald der neue Standard sein.“ Dass Matrixproduktionssysteme gerade bei herausfordernden Marktanforderungen eine wirtschaftliche Produktion ermöglichen, will eine Veröffentlichung zeigen, die das Fraunhofer IPA gemeinsam mit dem Fraunhofer IWU im Auftrag der acatech umgesetzt hat. Der Titel „Umsetzung von cyber-physischen Matrixproduktionssystemen – Expertise des Forschungsbeirats der Plattform Industrie 4.0“.Flexibel und produktiv durch Matrixproduktion.
Aktuell herrscht in der Industrie die Linienproduktion mit Fließband und festem Takt vor. Diese stellt Unternehmen immer häufiger vor Herausforderungen. Werden kundenindividuell konfigurierte Produkte oder kürzere Lieferzeiten gewünscht, ändern sich die Prozesse und feste Zyklus- sowie Durchlaufzeiten stimmen nicht mehr. Auch krisen- und umweltbedingte Unterbrechungen der Lieferketten, kurzfristige Stornierungen, Veränderungen der Bestellungen oder der Trend zu immer kleineren Auftragslosen machen die Linienfertigung weniger produktiv und erfordern einen hohen Steuerungsaufwand. Gleichzeitig müssen Unternehmen ihre Produktivität und Resilienz steigern, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.
Bei diesen Anforderungen lohnt es sich, abseits von Band und Takt zu denken, um Flexibilität bei hoher Produktivität zu erhalten. Diesen Lösungsansatz verfolgt die Matrixproduktion, ein flexibles Produktionssystem, das eine Produktion verschiedenster Varianten und skalierbarer Stückzahlbereiche ermöglicht. Produktionstechniker verstehen unter einer Matrix eine schachbrettförmige Anordnung von Produktionsmodulen, die frei verkettet sind. Ein solches Modul kann eine flexible manuelle oder automatisierte Montagezelle oder auch eine stark spezialisierte technologisch geprägte Station sein. Auch Linienabschnitte können als Prozessmodule Teil einer Matrix sein. Ein flexibler Materialfluss – realisiert über einen Logistiker oder eine Flotte fahrerloser Transportsysteme (FTS) – verkettet die frei anfahrbaren Prozessmodule.
In hochentwickelten Matrixproduktionen wird dieser Materialfluss cyberphysisch über einen Digitalen Zwilling gesteuert. Durch ihn lassen sich Stoffströme und Maschinenauslastungen optimieren. Mithilfe der Ergebnisse werden dann die realen – physischen – Module gesteuert. Dabei folgt jede Variante ihrem variantenspezifischen Pfad durch das System und Produkte durchlaufen nur die auftragsspezifisch benötigten Prozesse.
Die Umstellung auf ein Matrixproduktionssystem wirft Fragen in unterschiedlichen Produktionsbereichen auf und erfordert interdisziplinäre Expertise. Die komplexen Themen können hier nur angerissen werden: Gängige Planungsmethoden im Lean Line Design sind beispielsweise nicht eins zu eins auf die Matrixmontage übertragbar. Um zu erkennen, wann eine Rekonfiguration sinnvoll ist, wie sie zu gestalten und umzusetzen ist, bedarf es eines standardisierten Prozesses, der in die Organisation der Produktion integriert ist. Im Gegensatz zur klassischen Linienproduktion ist der Produkt- und Materialfluss in hochflexiblen Produktionssystemen wie der Matrixproduktion nicht durch das Produktionssystem vorgegeben. Dadurch steigt die Komplexität der Steuerung und unvorhergesehene Ereignisse in der Auftragsabwicklung nehmen zu. Klassische Verfahren der Auftragssteuerung wie Heuristiken sind ungeeignet, selbstlernende Auftragssteuerungssysteme müssen diese Lücke mit Methoden der KI schließen.
Die Materialbereitstellung macht effiziente Produktionssysteme erst möglich. Um der hohen Dynamik, unsicheren Nachfragemengen je Station und den Freiheitsgraden zur Auftragsverteilung zu begegnen, wird eine geplante Matrixproduktion in einer Simulationsumgebung abgebildet. Mit diesem digitalen Abbild werden Simulationsexperimente durchgeführt, um das dynamische Verhalten zu untersuchen. Um manuelle Montageprozesse in die komplexe Matrixproduktion zu integrieren, werden Systeme benötigt, die automatisiert den Zustand des Prozesses erkennen und an die Steuerung der Matrix zurückgeben können. Damit können abhängige Produktionsschritte in anderen Matrixzellen der aktuellen Situation angepasst werden. Die Schwierigkeit besteht darin, unterschiedliche KI-Methoden so zu kombinieren, dass man möglichst flexibel und exakt Informationen aus dem laufenden Prozess extrahieren kann.
Methoden zur automatischen Prozesserkennung sind ein wichtiger Bestandteil der komplexen KI-gestützten Matrixproduktion von morgen. Bildverarbeitung ist ein elementarer Bestandteil sowie eine notwendige Schnittstelle zwischen digitaler und realer Welt, um manuelle Prozesse in die automatische Matrixproduktion zu integrieren. Der Wunsch nach kundenindividuellen Produkten erfordert lernfähige Roboter in der Produktion, die sich ihre wechselnden Aufgaben selbst beibringen. Die passende Technologie dazu nennt sich Deep Reinforcement Learning und ist ein Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz.