Der Weg zur Matrixproduktion führt über digitale Reife aller Unternehmensbereiche

1 Dez

Die Matrixproduktion wird bald die Linienfertigung mit Band und Takt ablösen und eine neue industrielle Ära einleiten? Daran glaubt Prof. Dr. Hubert Biedermann eher nicht. Für den Instandhaltungsfachmann, Ingenieur und emeritierten Professor für Wirtschafts- und Betriebswissenschaften an der Montanuniversität Leoben, ist Matrixproduktion eine Vision, der sich die Unternehmen in kleinen Schritten nähern müssen. In vielen Technologiebereichen den nötigen Datenreifegrad herzustellen, um dann in hochflexible Steuerungssysteme übergehen zu können, ist nur theore­tisch einfach. Aber praktisch ist es enorm schwierig so umzusetzen, dass sich die erhofften Fle­xibilitäts- und Resi­lienzvorteile tatsächlich einstellen. Für die nähere Zukunft erwartet Bieder­mann deshalb eher die Kom­bination beider Konzepte, ein Nebeneinander von Linie für die großen Stückzahlen und wandlungsfähigen Produktionssystemen für kleine Lose, für hoch­flexible Marktanforderungen.

qm-aktuell.de: Herr Biedermann, mit einfachen Worten erklärt: Was bedeutet Matrixproduktion? Was will dieses neue Konzept erreichen?

Hubert Biedermann: Wir haben seit jeher das Dilemma, dass wir einerseits hohe Produktivität fordern, andererseits aber auch hohe Flexibilität oder darüber hinaus Wandlungsfähigkeit. Die klassische Werkstattfertigung in der historischen Rückschau zeichnete sich durch hohe Flexibilität, aber geringe Produktivität aus; die aktuelle Serien­fertigung ist hoch produktiv und wenig flexibel. Unter dem Begriff der Matrixproduktion versucht man, ein neuartiges wandlungsfähiges Produktionskonzept zu realisieren, in dem modulare Arbeits­stationen mit vielfältigen Prozessfähigkeiten, die – das ist wichtig – im Produktionssystem redundant vorhanden sind, und jede Arbeitsstation unterschiedliche Arbeitsschritte ausführen kann. Diese Arbeitsschritte müssen an mindestens zwei Arbeitsstationen durchgeführt werden können. Im Detail ist die Um­setzung von Branche zu Branche unterschiedlich, weil unterschiedliche marktseitige Ansprüche zu unterschiedlichen Anforderungen an die Flexibilität oder – darüber hinaus – Wandlungsfähigkeit führen.

qm-aktuell.de: Auch als Laie kann ich mir vorstellen, dass dies eine hoch entwickelte intelligente Steuerung erfordert.

Hubert Biedermann: In der Tat, das Vorhandensein einer intelligenten Produktionsplanung und -steuerung ist unerlässliche Voraussetzung, da der Materialfluss kurzfristig dynamisch angepasst werden muss. Dieses Konzept bewirkt in der betrieblichen Praxis ein Aufweichen des gerichteten Materialflusses, es werden Auftragspools gebildet und nach dem Verrichtungsprinzip flexibel miteinander verbunden. Das führt zu massiven Steuerungsanforderungen. Die Auftragssteuerung wird extrem komplex und ist oftmals für die Mitarbeitern nicht mehr nachvollziehbar. Ihre Bewältigung setzt einen sehr hohen Digitalisie­rungsgrad voraus, dass das Konzept momentan eher an seine Grenzen stößt. Es gab in der Automobil­industrie – ich möchte keine Namen nennen – Experimente, einen Volumenmix mit Sportwagen mit dem Einsatz fahrerloser Transportsysteme zu fahren. Das ist letzten Endes daran gescheitert, dass die Durchlaufzeit nicht wesentlich gesunken ist und die Termintreue in den Keller ging, weil der feh­lende gerichtete Materialfluss zu Problemen bei der Engpasssteuerung geführt hat.

qm-aktuell.de: Die Vorteile des Konzepts bleiben theoretisch, weil die Probleme der Umsetzung noch zu groß sind? So schnell wird also die Matrixproduktion die klassische Fertigungslinie nicht verdrängen?

Hubert Biedermann: Wir werden in den nächsten Jahren noch überwiegend komplett gerichtete Fertigungslinien haben. Ich bin davon überzeugt, dass das Toyota Production System in der Produktivität noch bei weitem nicht ausgereizt ist, sondern noch erhebliches Potenzial aufweist. Das Konzept der Matrixproduktion ist verlockend, aber derzeit überwiegen die Nachteile und der Bandwirkungsgrad sinkt. Ich brauche einen hohen Springereinsatz, was zusätzlich zu Problemen führt. Allerdings wird es Mischformen mit hochautomatisierten flexiblen Linien geben, davon bin ich ebenfalls über­zeugt. Man kann durchaus für kleinere Lose mit hohen Flexibilitätsanforderungen ein Pooling vorneh­men und sie aus dem gerichteten Materialfluss herausnehmen, wobei wir allerdings durch die Indivi­dualsteuerung der Aggregate auch immer wieder Verfügbarkeitsverluste haben werden.

qm-aktuell.de: Gibt es Branchen, die sich für die Umsetzung eines solchen Konzept eher anbieten als andere? Wel­cher Voraussetzungen müssen gegeben sein?

Hubert Biedermann: In der Halbleiterindustrie ist das Konzept sehr passend, weil wir hier kleine Lose, sehr große Produkt­vielfalt und dynamisch wechselnde qualitative und quantitative Anforderungen an die Produktion haben. Dort wird man, ein hoher Digitalisierungsreifegrad vorausgesetzt, mehr und mehr solche Ferti­gungskonzepte einführen können. Dazu müssen die Arbeitsstationen hoch flexibel sein, die Fertigungs- und Montagemittel ebenso. Automatisierte, autonom tätige fahrerlose Transportsysteme mit Standard- aber auch zahlreichen Nebenwegen zeichnen den Transport und das damit verbundene Layout aus. Und was das Wesentliche ist: Man muss in der Produktions­planung und Steuerung weg von determinierten hin zu kurzfristig flexiblen Produktionspfaden mit flexiblen Auftragsreihenfolgen; es muss dezentrale autonome und natürlich KI-gestützte Steuerungs­philosophien geben, die auch Lagersysteme mit kurzfristiger und dynamischer Lagerplatzvergabe einbeziehen. Wir haben also die Arbeitsstationen, die Fertigungsmittel, das Transportsystem, die Produktionsplanung und -steuerung und die Lagersysteme – eine Menge Stellschrauben – die gleicher­maßen flexibel sein müssen. Da ist es für die Mitarbeiter in der Produktion, die wir nach wie vor brauchen, extrem schwierig, noch den Überblick zu bewahren. Eine breitere und zugleich vertiefte Qualifikation ist notwendig.

qm-aktuell.de: Es geht also um eine Fülle von neuen Technologien, die ein Unternehmen gleichermaßen im Griff haben muss, bevor es an die Einführung eines Matrixsystems denken kann?

Hubert Biedermann: Die Komplexität explodiert geradezu, das ist die Schwierigkeit. Erste Veröffentlichungen haben Reife­gradstufen formuliert: Sie versuchen zu zeigen, welche Reife die einzelnen Gestaltungselemente des Produktionssystems aufweisen müssen, bevor ein Unternehmen einen Entwicklungspfad in Richtung Matrixproduktion einschlägt. Die Schwierigkeit dabei ist, dass man nicht an zu vielen Stellschrauben zugleich drehen darf, weil man sonst nicht weiß, welcher Schritt welches Flexibilitäts- oder Wand­lungsfähigkeitspotenzial hervorgerufen hat oder warum er nicht funktioniert. Das exakte Zusammen­spiel von Arbeitsstation, Fertigungs- und Montagemittel, Transport- und Lagersystemen sowie der Produktions­planung und -steuerung muss so konditioniert sein, dass wir die Flexibilitäts- und Resilienzvorteile tatsächlich erzielen, die wir uns versprechen. Darum halte ich mehr von der Idee, dass wir die Produk­tivität der Rennerlinien weiter nach dem Konzept z.B. von Lean Production steigern, wofür es noch genügend Potenzial gibt, und daneben für kleine Lose, für hochflexible Marktanforderungen wand­lungsfähigere Produktionssysteme einführen. Dabei lernen wir dann, wie das Zusammenspiel der dazu notwendigen Elemente und Gestaltungsinstrumente funktioniert.

qm-aktuell.de: Sie sehen die Einführung eines Matrix-Produktionssystem also nicht als ein gewaltiges Changeprojekt, sondern als einen langwierigen Entwicklungsprozess?

Hubert Biedermann: Genauso ist es. Ich möchte das zuspitzen am Beispiel des Instandhaltungsmanagements. Da lesen wir viel von Predictive Maintenance, dem dazu notwendigen Condition Monitoring in Verbindung mit Datenanalytik und der Möglichkeit, den Ausfallzeitpunkt von Bau­gruppen oder Elementen zu prognostizieren. Dazu brauchen wir allerdings umfassend hochqualitative Daten aus der Instandhaltung, aus Produktionsplanung und -steuerung, aus der Umwelt des Produk­tionssystems, z.B. über die Feuchte, Druck, Temperatur in der Umgebung des Aggregates, über den Energieverbrauch etc. Es ist aus verschiedensten mit horizontaler und vertikaler Integration derselben, also klassischer IOT in allen Bereichen bis hin zum ERP-System, ein Gesamtbild zu bauen. Die Daten müssen exakte Zeitstempel tragen, damit wir sie so zusammenführen können, dass wir daraus eine Prognose z. B. für vorbeugenden Teileaustausch, ableiten können. Das funktioniert allerdings nur bei Teilen, die einen Verschleißfortschritt haben – bei elektronischen Bauteilen können wir es nicht. Verstehen sie das bitte nur als Analogie, um zu zeigen, wie komplex das Gesamtthema ist. Man muss zuerst den nötigen Datenreifegrad herstellen, um dann in hochflexible Steuerungssysteme gehen zu können. Am Ende brauchen wir den qualifizierten Mitarbeiter, der auch in Zukunft das eine oder andere handwerkliche oder nur analytisch zu identifizierende Problem zumeist unter extremen Zeitdruck wird lösen müssen. Längerfristig wird uns die KI helfen, wo­bei ich zusätzlich ein Problem darin sehe, wenn der Mitarbeiter nicht mehr nachvollziehen kann, warum das Steuerungssystem eine bestimmte Maßnahme trifft. Diese Menschen müssen wir mitnehmen. Das ist ein generelles Problem der KI: Einerseits bringt sie schöne Ergebnisse und Möglichkeiten, andererseits aber gegebenenfalls einen Know-how-Verlust bei den Mitarbeitern, die sich einfach auf die KI verlassen.

qm-aktuell.de: Wie kann der Weg aussehen für ein Unternehmen, das diesen Entwicklungspfand beschreiten will?

Wir müssen aus der klassischen Fertigungsphilosophie heraus beginnen, vorhandene isoliert arbeiten­de Dateninseln miteinander zu vernetzen. Das haben wir wissenschaftlich schon im Griff, aber in der Praxis in breitem Umfang noch nicht. Bei einer interaktiven Simultanplanung zwischen Instandhaltung und Produk­tionsplanung, um bei dem Beispiel der Instandhaltung zu bleiben, passiert es oft, dass wir vorbeugend reparieren wollen, aber nicht an die Anlage kön­nen, weil die Produktion läuft. Ich muss die Produktionsprogrammpla­nung mit der Instandhaltungs­programmplanung verquicken und eine ganzheitliche Planung erstellen. Das gilt ebenso für qualitäts­sichernde und -stabilisierende Maßnahmen und in der Folge für die weite­ren Steuerun­gen wie Trans­portsysteme usw. – alle müssen integrativ betrachtet werden. Schritt für Schritt nähern wir uns der Datenqualität, die wir brauchen, um die beiden Produktionskonzepte, wo es die Branche und ihr Markt braucht, nebeneinander zu verwirklichen – die Rennerlinien, die total gerichtet laufen, und die Matrixproduktionsbereiche.

Kontakt: hubert.biedermann@unileoben.ac.at