An schnelle Lösungen im Kampf gegen den Fachkräftemangel glaubt Dr. Hans-Jürgen Richter nicht. Der Kybernetiker und Fachmann für die Optimierung von Organisationen weiß aus seiner reichen Beratungserfahrung und seiner Tätigkeit als Auditor und Zertifizierer um das Beharrungsvermögen von Organisationen. Gerade deshalb sieht er den Schlüssel für eine strategische Personalpolitik in einer Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements und der Unternehmenskultur. Ein Unternehmen, das den Belangen der Mitarbeiter in seinen Zielsetzungen hohe Priorität einräumt, wird sich um seine Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt keine Sorgen machen müssen – und um Kundenzufriedenheit und finanziellen Erfolg ebenso wenig. Der Weg dahin freilich ist lang.
qm-aktuell.de: Herr Dr. Richter, das Thema Fachkräftemangel begleitet uns ja latent schon seit gut drei Jahrzehnten. Seit Beginn der Covid-Pandemie hat es sich plötzlich in einige Branchen erheblich zugespitzt, etwa in der Gastronomie oder in der Logistik. Wie ist das zu erklären?
Dr. Hans-Jürgen Richter: Wie so häufig hat die Krise meiner Meinung nach ein Problem, das sich über lange Zeit aufgebaut hat, nur mit aller Schärfe sichtbar gemacht. Die Gastronomie und das Beherbergungsgewerbe sind dafür gute Beispiele. Da muss man die großen Zusammenhänge sehen: Diese Betriebe treffen heute auf ein verändertes gesellschaftliches Umfeld, in dem die sich die Menschen vom Kindergarten an in einem langen Bildungsprozess fit gemacht haben und sich mit ihren individuellen Entscheidungen sehr unterschiedlich in der Berufs- und Wirtschaftswelt positionieren und Erwartungen entwickelt haben. Man muss sich heute fragen, ob diese Branchen mit ihren vergleichsweise wenigen vollwertigen Arbeitsplätzen, mit viel Teilzeitarbeit und höchst unattraktiven Arbeitsbedingungen auf das richtige Geschäftsmodell gesetzt haben. Auch den Kunden konnte damit keineswegs immer die erwartete Qualität geboten werden. Deshalb erkennen wir heute schon einen Trend, dass etwa Restaurantbetreiber mehr feste Stellen schaffen, dass sie ihren Mitarbeitenden mit kürzeren Öffnungszeiten attraktivere Arbeitsbedingungen, mehr Raum für ihr Familienleben und bessere Bezahlung bieten wollen. Sie vertreten diese größere Wertschätzung ihrer Mitarbeitenden auch offensiv gegenüber ihren Kunden, denen sie mit zufriedenem und besser motiviertem Personal bei angepassten höheren Preisen ein zufriedenstellenderes Serviceerlebnis bieten.
qm-aktuell.de: Nach klassischen ökonomischen Vorstellungen müsste der Markt Angebot und Nachfrage regulieren: Knappheit erhöht die Löhne für stark nachgefragter Fachkräfte, was viele Menschen in diese Berufe locken müsste. Funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr?
Dr. Hans-Jürgen Richter: Die Höhe der Löhne ist nur ein Punkt, der das Verhalten der Menschen bestimmt, wenn auch ein wichtiger. Am Beispiel der Metallbranche lässt sich aufzeigen, dass dieser Faktor einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des Fachkräftepotenzials in einer Branche leistet. Da haben die Arbeitgeber über Jahre und Jahrzehnte immer wieder akzeptiert, wenn auch manchmal erst nach zähen Verhandlungen, dass sie gut beraten sind, für gute Arbeit auch Löhne zu zahlen, die ein gutes Leben ermöglichen und eine hohe Arbeitsmotivation erhalten. In den Branchen, die auf diese Weise agieren, ist das Problem Fachkräftemangel tendenziell geringer. Das gilt zum Beispiel auch in der Automobilindustrie, nehmen wir Daimler Benz als Beispiel, wo der Zusammenhang zwischen der Wertschätzung der Mitarbeiter durch angemessene Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen sowie der dem Kunden abgelieferten Qualität besonders offensichtlich ist. Generell konnte das ifo-Institut mit seinen regelmäßigen Personalleiterbefragungen zeigen, dass Dienstleistungsunternehmen, wo es häufig einen hohen Anteil an kurzfristig Beschäftigten und Zeitmitarbeitern gibt, generell weitaus stärker von Fachkräftemangel betroffen sind. Die faire Bezahlung ist nicht alles, auch die Sicherheit des Vollzeitarbeitsplatzes ist es nicht. In der medizinischen Pflege gibt es beides und trotzdem ist der Fachkräftemangel enorm, weil viele Fachkräfte die belastenden Arbeitsbedingungen nicht auf Dauer ertragen. Wenn man die Personaler fragt, hat man oft den Eindruck: Es hat sich herumgesprochen, dass die Attraktivität als Arbeitgeber von einem ganzen Bündel unterschiedlicher Faktoren abhängt – vom Homeoffice-Angebot über die kommunikative Unternehmenskultur bis hin zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und zum Gesundheitsmanagement. Schaut man sich die praktische Umsetzung an, wird oft deutlich: der kaufmännische Rotstift der Unternehmensleitung setzt diesen Versprechungen meistens enge Grenzen.
qm-aktuell.de: Aus den immer zahlreicher werdenden Befragungen zum Thema gewinnt man den Eindruck, dass Unternehmen in der Mitarbeiterakquise zu kurzfristig agieren. Stimmt es, dass manche Unternehmen nicht einmal einen genauen Überblick haben, über welche Ressourcen an Qualifikationen sie verfügen, geschweige denn, welche sie in fünf Jahren benötigen werden?
Dr. Hans-Jürgen Richter: Für die formalen Qualifikationen sehe ich das weniger, wohl aber, was die spezifischen Fähigkeiten angeht, die Mitarbeiter eines Unternehmens in zwei oder fünf Jahren haben müssen. Ein bekanntes Beispiel ist die Umstellung der Automobilproduktion auf Elektrofahrzeuge. Wenn ich das als Unternehmensleitung beschließe, muss ein verlässlicher Zeithorizont festgelegt werden. Die einzelnen Schritte dorthin müssen ebenfalls zeitlich fixiert werden. Welche Fachkräfte und Qualifikationen in diesem zeitlichen Ablauf zu welchem Datum verfügbar sein sollten, kann aber nicht die Personalabteilung bestimmen. Das sind unternehmensstrategische Festlegungen, in welche die Personaler für die Umsetzung einbezogen sein müssen. Die Personalabteilung hat hier gewissermaßen die Rolle einer unternehmensinternen Service-Einrichtung, sie ist Dienstleister bei der Frage, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die benötigten Fachkräfte bereitgestellt werden können: Was kann durch interne Aus- und Weiterbildung geleistet werden? Welche Spezialisten können auf dem Arbeitsmarkt und eventuell auch im Ausland akquiriert werden? Wo sind Kooperationen mit externen Hochschulen oder Akademien möglich? Wie können so geschaffene Qualifikationen dann auch im Unternehmen gehalten werden, denn schließlich kostet das alles viel Geld? Strategisches Personalmanagement ist ein aufwändiges und nur ziemlich langfristig erfolgreiches Unterfangen, einfache und schnelle Lösungen gibt es nicht.
qm-aktuell.de: Von der Anwerbung im Ausland oder von gezielter Werbung für bestimmte Berufsausbildungen versprechen Sie sich offenbar weniger, als es die Politik derzeit tut. Inwieweit nutzen die Unternehmen die Möglichkeiten der Akquise im Ausland? Sind die Bedingungen zu schwierig? Oder ist der Aufwand zu groß?
Dr. Hans-Jürgen Richter: Das ist alles sinnvoll und muss auch gemacht werden. Werbung, ob im Ausland oder im Inland, ist allerdings immer mit Versprechen verbunden, und wenn diese Versprechen hinterher nicht eingelöst werden, hilft die Werbung wenig oder wird sogar kontraproduktiv. Die Zuwanderung von Fachkräften zu erleichtern und zu fördern ist unbedingt sinnvoll, und viele Arbeitgeber nutzen die Möglichkeiten. Aber man mache sich nichts vor: Ausländische Arbeitskräfte lösen nicht nur Probleme, sie schaffen jedenfalls zunächst auch eine Menge neuer Probleme, die gelöst werden müssen. Diese Fachkräfte bringen großenteils Frauen und Kinder mit, brauchen Wohnungen, Schulausbildungen, Sprachkurse – alles derzeit nicht ganz einfach zu gewährleisten. Auch im Unternehmen ist zunächst einmal der Betreuungs- und Integrationsaufwand sehr groß. Das gilt selbst im ITK-Bereich, wo in den Unternehmen zwar weithin englisch gesprochen wird – der englischsprachige Mitarbeiter aber daran scheitert, sich in der Kantine ein Brötchen zu bestellen. Auch in solchen Unternehmen werden englischsprachige Fachkräfte ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher und betrieblicher Integration nicht auf Dauer zu halten sein. Ob Einwanderung von Fachkräften oder Erschließung noch brachliegender Arbeitskräftepotenziale im Inland – alle diese Dinge brauchen eine lange Zeit, erheblichen finanziellen Aufwand und menschliches Engagement, wir sprechen hier von wohl 20 bis 25 Jahren. Die Rahmenbedingungen dafür müssen in den Unternehmen geschaffen werden und in der gesamten Gesellschaft.
qm-aktuell.de: Womit wir wieder bei dem zentralen Stichwort Strategie sind: Was sind denn die Ansatzpunkte und Herausforderungen für ein strategisches und langfristig erfolgreiches Personalmanagement?
Dr. Hans-Jürgen Richter: Der Ansatz liegt in der gesamten Unternehmenskultur, in der Art und Weise, wie das Qualitätsmanagementsystem die Unternehmensziele formuliert und welche Prioritäten dabei gesetzt werden. Die Frage lautet: Wie ernst ist der bei Personalern beliebte Satz gemeint: „Die Mitarbeiter sind unsere wichtigste Ressource.“ Ein strategisches Personalmanagement wird sich nur entwickeln können, wo aus Überzeugung mitarbeiterorientierte Unternehmensziele einen hohen Stellenwert einnehmen. Solche Unternehmen erkennt man daran, dass sie eine intensive Kommunikation entwickeln und jedem Mitarbeitenden persönliche Entfaltungsfreiheit und die Chance einräumen, sich zu entwickeln, dazuzulernen und voranzukommen. Damit diese Ziele nicht zu Lippenbekenntnissen werden, sollten Unternehmensleitungen diese Themen mit eigenen Schwerpunktsetzungen im Personalmanagementprozess verankern, denn sie gehen ja weit über die standardmäßigen Anforderungen hinaus. Wo nicht Kundenzufriedenheit und Zufriedenheit der Mitarbeitenden Priorität haben, sondern wie häufig das finanzielle Unternehmensergebnis an die erste Stelle gesetzt wird, gibt es kaum eine Chance für echte Wertschätzung der Ressource Mitarbeiter. Natürlich muss ein Unternehmen immer wirtschaftlich arbeiten. Aber wenn es neben der Kundenperspektive das Wohl seiner Mitarbeitenden im Blick behält, ist es gleichzeitig auf dem besten Weg zu Prozessen, die Kundenzufriedenheit garantieren, und muss sich über die Erreichung seiner finanziellen Ziele kaum mehr Sorgen machen. Im Wettbewerb um Talente und Fachkräfte wird es die Nase weit vorne haben und eine erhebliche Anziehungskraft entwickeln. Zu einem solchen systematischen, professionellen und kontinuierlichen Personalmanagementprozess ist es freilich ein langer Weg.