Markterfolg mit neuen Produkten und Geschäftsmodellen wächst nicht aus einem kreativen Chaos. Die Unternehmensleitung muss von Beginn an in Innovationsprozesse involviert sein und ihnen Ziel und Richtung vorgeben. Ein strukturierender Managementsystemstandard, wie ihn die ISO derzeit entwickelt, kann Unternehmen Orientierung geben.
Seit das Gespenst einer disruptiven Technologieentwicklung umgeht, nehmen die Unternehmen für Innovation viel Geld in die Hand. 2019 haben die um ihre Marktstellung fürchtenden Autobauer mit gewaltigen F&E-Ausgaben Deutschland im „Bloomberg Innovation Index“ überraschend auf Platz 1 gepuscht. Ob Deutschland tatsächlich die „innovativste Nation der Welt“ ist und deutschen Unternehmen die nötige Innovation gelingt, wird sich erst in Jahren erweisen.
Nie war Erfolg vergänglicher als heute. Wer auf technologischen Fortschritt und Marktentwicklungen reagieren muss, hat schon so gut wie verloren. Gewinner ist, wer Neuerungen anstößt und in Markterfolg umsetzen kann. Leider wissen wir im Vorhinein nicht, was genau zur Innovation wird. Die Wirtschaftsgeschichte ist voll von genialen Ideen, die zu früh oder zu spät kamen, zu teuer oder schlecht produziert wurden, kein Bedürfnis wecken konnten, schlecht kommuniziert und vermarktet wurden. Wieviel die Beharrungskräften in den Unternehmen verhindert haben, lässt sich nur ahnen.
Innovationsmanagement gilt als Gebot der Stunde. Wer strategisch auf Innovation hinarbeitet, muss Prognosen treffen, wie sich Kundenbedürfnisse ändern, Wettbewerber und Marktrahmendaten entwickeln, Technologie fortschreitet und Rechtsvorschriften sich wandeln. Unternehmen investieren in Kunden- und Bedürfniserforschung, Technologiescouting soll vielversprechende Entwicklungen früherkennen und Simulationssoftware virtuell Industrieprozesse erproben. Man übt sich in Open Innovation, kauft Start-ups oder gründet selbst welche. In Innovation Labs oder Design Thinking Labs sollen Mitarbeiter kreativ sein. Gefordert und gefördert werden agile Arbeitsweisen und eine innovationsfreundlichen Unternehmenskultur.
All das kann helfen, muss aber nicht. Agile Methoden etwa bringen nach allen Studien Vorteile, beschleunigen die Markteinführung neuer Produkte und verbessern die Kundenorientierung. Wo allerdings eine Vision, strategische Zielsetzungen und die richtige Denkweise fehlen, bleiben agile Methoden Traumgebilde. 77 Prozent der Befragten der Capgemini Change-Management-Studie 2019 nennen Kultur als Erfolgsfaktor für Agilität. Fast zwei Drittel sehen Führungskultur und die Menschen dahinter auf Rang eins und zwei als Treiber für die agile Transformation.
Trotz aller Anstrengungen gelingen durchschlagende Innovationen selten. Die meisten Projekte scheitern, Studien sprechen von 60 bis 80 Prozent. Die Ursachen sind vielfältig. Wer einseitig die Erneuerung des Technologie- und Produktportfolios im Blick hat, vergisst gerne, das Geschäftsmodell zu überdenken. Zu identifizieren, was einen Wettbewerbsvorsprung verschaffen kann, ist schwierig. Aber nur so weiß ein Unternehmen, wie es strategisch handeln sollte.
Projekte scheitern im Unternehmen
Über eines sind sich die Fachleute einig: Die meisten Projekte scheitern im Unternehmen, nicht erst im Markt. Oft ist Innovation in Strategiepapieren und Erklärungen stärker verankert als im Unternehmensalltag, in dem im Zweifel das Tagesgeschäft vorgeht, weil da das Geld verdient wird. Womit man in Zukunft das Geld verdienen wird, tritt gerne in den Hintergrund. Dringlichkeit geht vor Wichtigkeit, für Innovation bleibt ein Lippenbekenntnis. Das nicht gelebte Commitment und die fehlende Unterstützung sind wohl ein Hauptgrund für das Scheitern von Innovationen. Schädlich ist auch die einseitige Fixierung auf Kreativität, Idee und Prototyping. Was passiert, wenn sich die Idee in der Simulation, im Innovation Lab als erfolgversprechend erweist? Welche Ressourcen stehen zur Verfügung, welche Schritte, welche organisatorischen Veränderungen sind nötig, um sie im Markt zu realisieren? Welche Widerstände und Hemmschwellen sind zu überwinden? Schaffen es das Unternehmen allein, wenn nicht – wo sind die Partner? Die Skalierbarkeit muss von Anfang an mitgedacht und mitgeplant werden.
Innovation lässt sich nicht nebenbei anstoßen und nicht an Spezialisten delegieren. Sie gehört ins Zentrum des Selbstverständnisses und der Strategie –damit in die Verantwortung der Chefetage. Sie muss Ziel und Richtung bestimmen. Offenbar zahlt sich das aus: Unternehmen, die Innovationen ins Zentrum ihres Tuns stellen und umfassend steuern, erzielen doppelt so viel Umsatzwachstum wie solche, die dies nicht tun. Das sagt der aktuelle Accenture Report „Innovation regeln: Das Rezept für das Portfolio-Wachstum“. Dafür wurden nicht nur weltweit Führungskräfte befragt, sondern aufwendig ihre Praxis und ihren wirtschaftlichen Erfolg hinterfragt.
Innovation braucht strategische Führung
Danach geben 84 Prozent der befragten Führungskräfte an, Innovationen zentral zu lenken – durch einen Chief Innovation Officer, ein Innovationskomitee oder ähnlich. Der von Accenture entwickelten Messlatte einer umfassenden Innovationsgovernance hält dieser Anspruch nicht stand. Nur wenn mindestens sechs von zwölf Governance-Praktiken oder „Ritualen“ angewandt werden, sieht die Studie diesen Anspruch als erfüllt an (von “1. Put innovation at the center of corporate strategy“ bis “12. Scale through an innovation lab/digital factory”). Nur zwölf Prozent der Unternehmen kümmern sich in diesem Sinne umfassend um Innovation. Diese Unternehmen erzielten von 2013 bis 2018 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 5,9 Prozent. Unternehmen (88 Prozent), die mit Innovationen weniger planvoll umgehen, kommen nur auf durchschnittlich 2,9 Prozent.
Dabei geht es nicht um eine zentralisierte Ausrichtung und Verwaltung. Entscheidend ist der systematische Ansatz zum Management und zur umfassenden Steuerung von Innovationen. Er hilft zu klären, welche Art von Innovation erforderlich ist und was die richtigen Methoden und Verfahren sind, um die Innovationsinvestitionen auf das gewünschte Wachstum auszurichten. Das kann spürbare finanzielle Auswirkungen haben, legt die Accenture-Studie nahe.
Systematik ist die Stärke standardisierter Managementsysteme. Die ISO hat diesen Bedarf spät, aber immerhin erkannt und mit der 56000er Familie zum Innovationsmanagement eine Antwort gegeben. Die unlängst veröffentlichte ISO 56002, Innovationsmanagement – Innovationsmanagementsystem – Anleitung, deckt alle Aspekte des Innovationsmanagements ab, vom ersten Stadium einer Idee bis hin zur Markteinführung. ISO 56002 ergänzt zwei bereits veröffentlichte Dokumente der Reihe: ISO 56003, Innovationsmanagement – Instrumente und Methoden für Innovationspartnerschaft und ISO / TR 56004, Bewertung des Innovationsmanagements. Ergänzende Standards sind in Arbeit.
Der erste internationale Standard bietet einen systemischen Ansatz zur Integration von Innovationen in alle Ebenen der Organisation, um Chancen für die Entwicklung neuer Lösungen, Systeme, Produkte und Dienstleistungen zu nutzen und zu schaffen. Er ist nach der sogenannten High Level Structure aufgebaut, arbeitet also mit Begrifflichkeiten, Definitionen und Kerntexten, die vielen Unternehmen von ISO 9001 und anderen Managementsystemnormen her vertraut sind. Indem es sich gut in ein integriertes Managementsystem einfügt, bietet es gerade mittelständischen Unternehmen die notwendige Orientierung im Kampf um Innovation.
Und weil Innovationsprozessen immer auch scheitern können: Der PDCA-Zyklus, eine weitere Basis standardisierte Managementsysteme, kann helfen, das Scheitern als Lernerfahrung zu betrachten und im nächsten Anlauf etwas Besseres zu schaffen.
Ansprechpartner bei TÜV Rheinland: Prof. Dr. Kai Höhmann