Industrialisierung ist immer noch ein großes Thema

13 Nov

Interview mit Dr. Philipp Jatzkowski, Leiter des Competence Center Production Excellence des TÜV Rheinland

Production Excellence will transparente Prozessabläufe erreichen, die Mehrwert schaffen, Zeit und Geld sparen und in heiß umkämpften Märkten Vorteile bringen. Wirtschaftlichkeit der Produktion und Qualität stehen gleichermaßen im Fokus. Dr. Philipp Jatzkowski, Leiter des Competence Center Production Excellence des TÜV Rheinland, gibt Einblicke in die Arbeitsweise seines Beraterteams.

„Industrialisierung der Produktionstechnik“ steht über dem Flyer, der die Dienstleistungen Ihres Teams beschreibt. Hat die Industrialisierung nicht im 18. Jahrhundert in England stattgefunden?

Dr. Jatzkowski: Wir sprechen immer noch von Industrialisierung, wenn ein Unternehmen sich vom Manufakturbetrieb zu einem industrialisierten Betrieb verändern muss. In hochtechnisierten Produktionsbetrieben steckt noch viel „Manufaktur“ – wird noch viel „von Hand“ gemacht. Da gibt es etwa in der Automobilproduktion immer noch Dutzende Lehren, also Schablonen, die neben der Karosseriefertigung hängen. Da sollte längst zeit- und geldsparende Lasermesstechnik am Werk sein. Aber so einfach ist es nicht! Ein solches Projekt hat viele technische Schwierigkeiten und stößt auch auf Widerstände. Eine klassische Aufgabe für uns!

Michel Bechtel: PE hilft also Unternehmen, in der Fertigung Zeit und Geld zu sparen?

Dr. Jatzkowski: So könnte man es vereinfacht sagen. Wir schauen, wie Produkte optimal realisiert werden können. Wir haben zum Beispiel ein Unternehmen beraten, das ein wunderbares Produkt im Markt hatte. Damit war es Weltmarktführer, bekam begeistertes Kundenfeedback und kaum Reklamationen. Bei der Produktrealisierung allerdings wurde Geld verbrannt, weil die Prozesse nicht optimal abgestimmt waren. So etwas passiert oft, denn die Herstellung eines Produkts ist komplex. Auch im Jahr 2019 weiß das Produktdesign, der Konstrukteur, nicht immer genau, wie präzise die Fertigung später das Teil bauen kann, damit es montiert werden und in Betrieb gehen kann. Er vergibt eine Toleranz, die Bohrung muss immer an der Stelle xy sein. Das ist sie aber natürlich nicht immer genau, da reden wir über ein Zehntel, ein Hundertstel oder ein Tausendstel Abweichung. Dann muss geprüft werden, ob es so passt.

Die Festlegung der Spezifikation, die Streuung des Fertigungsprozesses und die Unsicherheit des Messprozesses – wenn wir diese drei Dinge beherrschen, haben wir eine „fähige Fertigung“. Das bedeutet, sie kann reproduzierbar mit hoher Produktqualität produzieren. Man kann zuverlässig voraussagen, in welcher Qualität ein Teil herauskommt, und die Produktqualität steuern und prüfen.

Michel Bechtel: Sind damit die Unternehmensleitungen überfordert?

Dr. Jatzkowski: Das ist so eine Sache. Viele Unternehmen stehen gar nicht unter so hohem Druck und können es sich leisten, bei der Produktrealisierung Geld zu verbrennen. Bei dem Weltmarktführer, von dem ich sprach, lief das nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Am Ende hat man die Fertigung zu 100 Prozent geprüft, und so hatte man gute Produkte im Markt. Die Kosten waren höher, als sie sein mussten – aber das konnte man sich leisten. In meinem solchen Unternehmen ist es schwer, Prozessverbesserungen durchzusetzen. Hat eine Firma Qualitätsprobleme, Ebit-Probleme oder Probleme mit dem Wettbewerb, der irgendwo günstiger produziert – dann kommen wir gerne hinein in Projekte. Dann haben wir das Commitment der Geschäftsleitung, müssen aber mit den Betroffenen gemeinsam Prozessstandards entwickeln. Nicht Wunschprozesse auf dem Papier, sondern Prozesse mit dokumentierten Vorgaben, die über Schulungen ausgerollt sind und stetig funktionieren.

Michel Bechtel: Da kommt der menschliche Faktor ins Spiel! Sie gehen selbst an die Produktionslinie und setzen sich mit Widerständen auseinander?

Dr. Jatzkowski: Die Beratung steigt von oben ein – bei Fachabteilungen und Qualitätsleitung. Dann aber tauchen wir mit den Betroffenen tatsächlich tief in die Prozesse ein. In der Six Sigma Systematik gibt es den Begriff: go to gemba, zum Ort der Wertschöpfung gehen. Nur in der Produktion erfahren wir, wo die Probleme liegen. Die am besten wissen, was man wie verbessern kann, sitzen oft in der Produktion – werden aber selten gehört. Deshalb konzentrieren wir uns nicht nur auf Technologieprojekte, unsere Arbeit umfasst Lean, Six Sigma, Projektmanagement, Technologie und umfasst auch den Menschen.

Michel Bechtel: Neben den Prozessen geht es um Technologieberatung – ist diese Verbindung charakteristisch für den Ansatz?

Dr. Jatzkowski: In erster Linie geht es uns um das Thema Prozesse, aber Fertigungsprozesse sind durch Technik geprägt. Unser Team hat einen breiten produktionstechnischen Hintergrund. Wir kennen uns aus mit Fertigungstechnologien und haben einen Fachmann für Digitalisierung. Ich selbst habe am Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen in Fertigungsmesstechnik und Qualitätsmanagement promoviert. Deshalb können wir bei Bedarf technologisch in die Tiefe gehen, in die Produktionsprozesse hineinschauen. Und wir können messen! Beim Thema Lean Production / Six Sigma ist das wichtig: Wo stehe ich heute und wo stehe ich nach der Umsetzung des technologischen Verbesserungsprojekts? Sind wir statistisch signifikant besser geworden? Messen ist aufwendig, da steckt Technologie hinter, aber auch Invest.

Michel Bechtel:  Sie nannten das Stichwort Digitalisierung – raten Sie zum Einsatz bestimmter Technologien?

Dr. Jatzkowski: Unser Spezialist für Smart Factory berät auch bei der Transformation eines traditionellen in einem neuen, digitalisierten Maschinenpark. Der Maßstab ist immer: Bringt eine Technologie die Fertigung voran, dann her damit. Wenn nicht, dann weg damit! In einem veralteten Maschinenpark ist es schwierig zu wissen, wie gut die Prozessfähigkeit eigentlich ist. In der Industrie gibt es häufig noch kein Big Data. Die Sensorik fehlt, um zu erfahren, was in den Prozessen eigentlich abläuft. Digitalisierung hilft, dass Messwerte in einen Data Lake einfließen, aus dem wir uns bedienen können, um die Prozessfähigkeit steigern und signifikante Verbesserungen schaffen zu können.

Michel Bechtel: Die Sensorik schreitet doch schnell voran, die Flut der Daten vergrößert sich…

Dr. Jatzkowski: Ja, aber in der Industrie nicht so schnell wie im Consumer-Bereich. In der Produktion liegen uns oft gar nicht so viele Daten vor. Und ganz wichtig ist die Frage: Wie verlässlich sind denn die Daten? Auf deren Basis muss ich ja Entscheidungen treffen. Um das Beispiel Laserradarsystem noch einmal aufzugreifen: Muss ich meinen Schweißroboter nachregeln – ja oder nein? Auch der Laser misst nicht 100% genau, da gibt es ein oder zwei Zehntel Unsicherheit. Reicht die Genauigkeit, um die Schablone abzulösen? Stellt der Laser sicher, dass das Gewinde an der richtigen Stelle sitzt oder nicht. So etwas ist ein wichtiger Teil unserer Beratungsleistung. Das Vertrauen in Messtechnik ist für mich eine fundamentale Größe, um Produktionsprozesse steuern und kontrollieren zu können.

Michel Bechtel: Das ist ein ganzheitlicher Beratungsansatz, in dem professionelles Projektmanagement ein Schlüsselthema ist.

Dr. Jatzkowski: Ein Großteil unserer Leistung ist professionelles Projektmanagement. Es braucht jemanden im Unternehmen, der bei all den Prozessen, Veränderungen, Konflikten und Risiken den Überblick behält. Wir kümmern uns um einen business case für das Projekt, d.h. wir schaffen ein Szenario zur Beurteilung der Investition unter strategischen, betriebswirtschaftlichen und weiteren Aspekten. Wir sorgen für einen Steuerkreis, der den Projektfortschritt überwacht, für ein regelmäßiges Reporting, für Projektmanagement-Standards. Das ist locker die Hälfte unserer Leistungserbringung.